«Frag doch schnell den...»: Instant-Reaktionitis

Interview mit Frau: Journalisten holen schnell Reaktionen ein
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Sie kennen diesen Typ von Geschichte: Es gibt ein neues Asylzentrum in Gretzenbach. Was sagt wohl SVP-Nationalrat und Minarettsverbot-Initiant Wobmann dazu, der in dieser Gemeinde wohnt? Oder: Es gibt eine neue provokative Werbekampagne. Was sagt wohl SP-Nationalrätin und Vorzeigefeministin Yvonne Feri dazu? Journalisten brauchen Konflikte. Konflikte brauchen Menschen mit klaren Positionen. Wir Journalisten tappen deshalb täglich in diese «Reaktionitis-Falle».

 

Eine Nachricht wird erst dann zur Geschichte, wenn sie noch die eine oder andere spannende Zutat erhält. Die Meldung, dass der Kanton Solothurn nun auch in Gretzenbach eine Asylunterkunft einrichten will... nun ja, das ist schnell erzählt. Ein paar Sätze, mehr nicht. Was tun, wenn man Sendezeit oder Spalten füllen muss? Man sucht sich jemanden, der sich ganz sicher darüber nervt. Im Fall Gretzenbach ist der Interviewpartner schnell gefunden: Nationalrat Walter Wobmann (SVP) wohnt ja da. Ein Glücksfall für den Journalisten. Wirklich?

 

Klar, wir «Fliessband-Journalisten» in tagesaktuellen News-Redaktionen sind angewiesen auf eine gewisse Einfachheit der Recherche und auf Tempo. Es ist klar, dass sich da im Lauf der Zeit «Lieblingskandidaten» für «schnelle Reaktionsgeschichten» herausbilden. Ein Walter Wobmann beispielsweise hat seine Vorzüge: Man hat auf der Redaktion seine Handy-Nummer, er ist also gut erreichbar. Man weiss auf der Redaktion, was der Mann denkt, er ist also gut einschätzbar. Man weiss auf der Redaktion, dass er immer was zu sagen hat, er ist also gut brauchbar.

 

Glarner, Wobmann, Feri...

Weitere «übliche Verdächtige» in meiner Region sind zum Beispiel Neo-Nationalrat Andreas Glarner (SVP), der schon vor seiner nationalen Politkarriere zu allem und jedem im Aargau seinen Senf dazu geben konnte (oder musste), weil er als Dauer-Provokateur von Journalisten quasi hofiert wurde. Zu nennen wäre beispielsweise auch Nationalrätin Yvonne Feri (SP), die von Journalisten immer dann angefragt wird, wenn irgendwo auf einem Plakat (zu) viel nackte Haut zu sehen ist. Diese und andere Namen garantieren also beinahe täglich dafür, dass die Geschichten «knackig» werden. Wirklich?

 

Es gibt ein paar Probleme. Und diese Aufzählung hat nicht einmal den Anspruch auf Vollständigkeit:

  • Fachkenntnisse? Politiker/innen mit klaren Ansichten oder provozierender Sprache sorgen zwar für Aufmerksamkeit, aber eher selten für (unerwartete) Einsicht. Oft werden in ihren Reaktionen sogar Unwahrheiten oder Ungenauigkeiten transportiert. Vielleicht sollten wir Journalisten uns nicht an die lautesten, sondern an die kompetentesten Auskunftspersonen wenden?
  • Betroffenheit? Ist Walter Wobmann speziell betroffen von einer Asylunterkunft in seiner Gemeinde? Natürlich nicht! Wie wär's also, wir Journalisten würden uns mit den unmittelbaren Nachbarn unterhalten? Oder aber wenigstens mit dem Gemeindepräsidenten (was übrigens in diesem Fall auch passiert ist), der ja (im Gegensatz zum Herrn Nationalrat) tatsächlich die politische Verantwortung für die Kommune trägt?
  • Zweckdienlichkeit? Was erreicht der Journalist mit seiner Sendung oder seinem Artikel, wenn er die Berichterstattung zu einem Ereignis mit der (erwartbaren) Gegenposition ergänzt? Klar: Wenn die Regierung ein neues Gesetz präsentiert, dann lässt man die Parteien dazu Stellung nehmen. Das illustriert den nachfolgenden politischen Prozess. Aber wenn das Aargauer Sozialdepartement irgendetwas beschliesst, braucht es dann wirklich immer eine Stellungnahme des (nicht direkt betroffenen) Andreas Glarner? Das war eine Zeit lang so üblich, denn Glarner nutzte die Gelegenheit immer gerne für träfe Sprüche gegen die Departementsvorsteherin. Ob zu Recht oder zu Unrecht, sei dahingestellt. Fakt ist: Es bringt nichts. Der Erkenntnisgewinn ist gering. Und im Sinne des konstruktiven Journalismus müsste man doch eher Leute befragen, die Entscheidungen aus der Verwaltung kritisch, aber fachlich kompetent beurteilen können... also Leute, die nicht nur «motzen» mit politischen Hintergedanken (es ist immer Wahlkampf), sondern konstruktive Optimierungsvorschläge einbringen könnten.
  • Bevorzugung? Das führt uns zu einer weiteren Erkenntnis: Die «Instant-Reaktionsgeschichten» haben die Tendenz, politische Extreme zu fördern. Wer einen träfen O-Ton braucht oder eine provokative Schlagzeile, der fragt an den politischen Polen: SVP, SP oder Grüne. Die Mitteparteien und ihre Politiker gehen in solchen Geschichten häufig vergessen. Man könnte sagen, das sei deren eigene Schuld. Sie müssten halt klarere politische Positionen haben. Aber diese Erklärung greift zu kurz. Wir Journalisten wollen ein kurzes, knackiges Statement. Ein klares «Wir sind total dagegen» übertrumpft ein «Wir sind im Grundsatz dafür, aber möchten in diesem und jenen Punkt nachbessern.» Die Frage sei erlaubt: Ist es inhaltlich und politisch wirklich sinnvoller? Und: Haben wir Journalisten da nicht auch vielleicht sogar eine Verantwortung?

Journalismus ist keine exakte Wissenschaft. Es braucht jeden Tag Denkarbeit und jeden Tag publizistische Diskussionen. Eine Diskussion könnte davon handeln, wie wir auf die Frage des Redaktionsleiters oder der Produzentin reagieren, wenn es mal wieder heisst: «Frag doch den XY, der ist immer gut für einen träfen Spruch.» Ist es wirklich das, was wir wollen? Und vor allem: Ist es wirklich das, was unser Publikum braucht?

 


 

Ich bin Redaktionsleiter bei SRF. Und wenn ich hier von «wir Journalisten» schreibe, dann meine ich das auch so. Die Erkenntnisse betreffen auch meine Redaktion. Auch wenn gewisse erwähnte Beispiele in diesem Text tatsächlich von der privaten Konkurrenz stammen. Diese Beispiele sind mir aktuell präsent, deshalb habe ich mich dort bedient. Sorry!

 


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