Die 4. Gewalt im Staat - ein Zukunftsmärchen

Ein Stuhl in einem Sitzungszimmer.
Bild: Maurice Velati

Die Aargauer Regierung präsentiert die jährliche Staatsrechnung. An der Medienkonferenz sind der Finanzdirektor vertreten, der Leiter des kantonalen Finanzamtes, der Pressesprecher der Regierung sowie ein Medienbeauftragter des Finanzdepartements. Sie alle sitzen auf dem Podium, um gemeinsam über den Rechnungsabschluss zu informieren. Ihnen gegenüber in der zweiten Sitzreihe ein einziger, einsamer Journalist.

 

Nennen wir ihn Roger, den Journalisten. «Guten Tag Herr Meierhans», hatte der Medienbeauftragte des Finanzdepartements ihn begrüsst und ihm eine Tasse Kaffee hingestellt. Der Finanzdirektor hatte ihm beim Vorbeigehen jovial auf die Schulter geklopft mit einem lässigen «Sali Roger, alles klar?». Man kennt sich im Kanton.

 

«Es freut mich, Sie zu unserer alljährlichen Medienkonferenz zu begrüssen», beginnt der Regierungssprecher nun den offiziellen Teil der Sitzung in gewohnter Manier. «Die Präsentation mit den Grafiken schick ich dir noch digital», erklärt er zu Roger gewandt. Dann erteilt er dem Finanzdirektor das Wort für eine politische Würdigung des Rechungsergebnisses. Es folgen die gewohnten Phrasen: Konstruktive Zusammenarbeit zwischen Parlament und Regierung, hohe Budget-Disziplin der Verwaltung, eine verantwortungsbewusste Ausgabenpolitik der Regierung und so weiter. Roger wendet sich inzwischen dem 432 Seiten starken Rechnungsbericht zu. Die Redaktion hat den Medientext der Regierung schliesslich bereits erhalten und online gestellt, Roger kann sich jetzt also um die Details kümmern, um die Hintergründe.

 

Tasse Kaffee
(c) pogobuschel / pixelio.de

Der Budgetposten 300.15 erregt die Aufmerksamkeit von Roger. «Sachaufwand Innendepartement, Vorsteher» ist der nüchterne Titel. Die Zahl dahinter liegt mit über 130'000 Franken deutlich über dem budgetierten Wert von 10'000 Franken. Roger stutzt. Sein journalistischer Spürsinn sagt ihm, dass sich da eine mögliche Geschichte verbirgt. Das wäre vielleicht etwas für die gedruckte Zeitung am Folgetag. Ein klassischer «Weiterzug» für das «tägliche Hintergrundmagazin», wie ihn der Chefredaktor ständig wünscht.

 

Der Innendirektor ist bekannt für seine allseits beliebten gesellschaftlichen Anlässe, an denen sich die Spitze von Wirtschaft und Politik jeweils trifft. Inzwischen präsentiert der Finanzamt-Chef die Rechnungsabschlüsse des Kantons im 10-Jahres-Vergleich. Die Tabellen und Diagramme auf der Leinwand hinter dem Podium wechseln im Sekundentakt. Aber Roger nimmt den gewohnt monotonen Singsang des langweiligsten Chefbeamten kaum mehr wahr.

 

Wie gut wäre es jetzt, er könnte seine Entdeckung kurz einem Kollegen zeigen, denkt Roger. Ist es wirklich eine Geschichte oder hat er sich völlig verrannt? Vielleicht gibt es eine ganz einfache Erklärung für die 120'000 Franken über Budget, sinniert Roger weiter. Sein Bauch sagt zwar etwas anderes, aber kann ein einzelner Journalist aus einem Bauchgefühl heraus aktiv werden? Roger blättert weiter in den 432 Seiten des Jahresberichtes. Baudepartement, Abteilung Tiefbau, Projekte Strassenbau Unterhalt. Justizdepartement, Abteilung Strafvollzug, Sanierung Zentralgefängnis Zellentrakt 3. Roger versucht sich zu konzentrieren, doch ständig flackert vor seinem inneren Auge diese ominöse Seite auf. Budgetposten 300.15.

 

«Gibt es gerade noch spontane Fragen?» Der Regierungssprecher hat die Medienkonferenz offiziell für beendet erklärt und wendet sich wieder persönlich an Roger. «Du kannst uns natürlich auch am Nachmittag noch anrufen, wenn etwas auftaucht. Wie immer, gell.» Roger fasst sich ein Herz. «Eine Frage hätte ich doch noch: Budgetposten 300.15, Seite 128. Da ist man 120'000 Franken über Budget. Können Sie mir das erklären?»

 

Der Finanzdirektor räuspert sich. Sein Blick wandert hilfesuchend zu seinem langweiligen Chefbeamten. Doch dieser blättert scheinbar hochkonzentriert im Jahresbericht und will die gesuchte Seite einfach nicht finden. Der Pressesprecher der Regierung ergreift ungefragt das Wort. «Es kommt natürlich immer wieder vor, dass wir bei einzelnen Posten die Budget-Obergrenze nicht einhalten können. Das kann verschiedene Gründe haben. Aber das würde jetzt sicher zu weit führen, das alles im Einzelnen anzuschauen.» Eine kurze Pause. Der Finanzdirektor hat sich wieder gefasst. «Ja, das ist natürlich richtig. Wir liegen immer wieder etwas daneben mit unseren Prognosen. Aber das ist der normale Prozess. Sonst noch Fragen?»

 

Roger blickt auf seine Uhr. Es ist schon 11 Uhr. Die Kollegen vom Broadcast warten sicher bereits auf seine Interviews. «Könnte ich mit dem Finanzdirektor noch etwas aufnehmen?», fragt Roger und kramt seine Video/Audio-Ausrüstung aus dem Rucksack. «Natürlich, gerne. Ich organisiere Euch noch einen Schluck Wasser», meint der Pressesprecher mit aufgehellter Miene. Der Chefbeamte des Finanzdepartements räumt bereits seine Mappe ein, der Medienbeauftragte des Departements stellt den Beamer ab. Roger macht sein obligates Interview mit dem Finanzdirektor und schickt es anschliessend mit seinem Laptop ungeschnitten an die Kollegen von Radio und TV. Die Radio-Kollegen können die Tonspur nutzen und in den Mittagsnachrichten über den wiederum knapp ausgeglichenen Rechungsabschluss im Kanton berichten. Zahlen und Fakten sind ja bereits mit der Medienmitteilung bei den Redaktionen angekommen.

 

Roger entspannt sich etwas. Die Zeit reicht wieder einmal für ein anständiges Mittagessen. «Man muss sich an den kleinen Dingen im Leben freuen», denkt Roger und verlässt das Regierungsgebäude in Richtung Pizzeria.

 

Pizza
(c) Peter Smola/pixelio.de

Am Nachmittag baut Roger den Online-Artikel seiner Redaktionskollegen aus. Er ergänzt den mehr oder weniger der regierungsrätlichen Medienmitteilung entsprechenden Artikel mit ein paar zusätzlichen Fakten und einigen Zitaten aus seinem Interview. Die TV-Kollegen haben das Interview inzwischen etwas geschnitten, so dass er das Video-File noch online stellen kann. Nach zwei Stunden und einer kurzen Kaffeepause setzt sich Roger erneut an seinen Arbeitsplatz und beginnt mit der Arbeit für den Hintergrund-Artikel in der Printausgabe.

 

Wie immer kämpft Roger mit dem Einstieg. Der Artikel soll anders beginnen als die Online-Version. Das hat ihm der Chefredaktor in den letzten Wochen immer wieder gesagt. Roger leidet. Das gehöre zu seinem Job-Profil, pflegt der Chefredaktor zu sagen. Kurz vor 17 Uhr greift Roger doch zum Telefon. Es lässt ihm einfach keine Ruhe.

 

«Ich habe noch eine kleine Frage, die mir der Amtsleiter sicher beantworten kann. Es dauert nicht lange, es geht nur um den Budgetposten 300.15», erklärt Roger der Vorzimmerdame am anderen Ende der Leitung. Und bereut sogleich, dass er den Grund seines Telefonats so leichtfertig preisgegeben hat. Im Stress vergisst Roger manchmal die grundlegendsten Kniffe seines Berufes. Warteschlaufen-Musik. Dann wie befürchtet erneut die Stimme der Vorzimmerdame. «Er ist gerade in einer sehr wichtigen Besprechung. Sie können ihn heute leider nicht mehr erreichen. Unmöglich. Versuchen Sie es doch morgen wieder.» Selbstverständlich erklärt Roger der Dame mehrmals, dass eine Auskunft am Folgetag zu spät komme, da dann die Zeitung mit dem entsprechenden Artikel bereits erschienen sei, doch sie lässt sich nicht beirren.

 

Roger ist nicht ganz wohl bei der Sache. Aber der Chefredaktor war völlig begeistert, nachdem er den Artikel gelesen hatte. «Mit solchen Geschichten beweisen wir, dass wir eben doch die vierte Gewalt im Staat sind. Super, Roger! Das bringt Auflage, das ist Qualität.» Roger hätte gerne noch an ein paar Formulierungen gefeilt, hätte die fehlenden Informationen gerne noch etwas eleganter umschifft, aber der Drucktermin war zu nahe. «Mein Bauchgefühl hat mich bisher ja kaum belogen», beruhigt sich Roger. Einmal mehr ist er zwar erschöpft, kann aber trotzdem kaum einschlafen.

 

Schlafzimmer
(c) Rainer Sturm / pixelio.de

Das Telefon klingelt schon bevor er seinen ersten Kaffee getrunken hat. «Das wird Konsequenzen haben, Roger!» brüllt ihn der Pressesprecher der Regierung an. «Der Finanzdirektor und der Innendirektor haben mir ausdrücklich gesagt, dass du nicht mehr an unseren Pressekonferenzen zu erscheinen brauchst. Du kannst künftig deinen Praktikanten schicken, mit dir reden die beiden Herren aber sicher nicht mehr.» Dann legt er auf. Roger lässt den Kaffee stehen und fährt in die Redaktion.

 

Der Verleger kommt gerade aus dem Büro des Chefredaktors. Er steuert direkt auf Roger zu. «Wir stehen natürlich hinter Ihnen, Herr Meierhans. Der Chefredaktor hat mir bestätigt, dass Sie sich gut auskennen und dass wir hinter den Aussagen stehen können, auch wenn sie nicht alle zweifelsfrei belegt sind. Aber Sie verstehen, wir müssen ja auch etwas schauen wegen der Stimmung hier im Kanton. Ich meine, der Innendirektor kennt ja nun auch einige unserer wichtigsten Werbepartner sehr gut, verstehen Sie.» Roger versteht schon. Und der Verleger fährt fort: «Ich denke, es wäre besser, wenn Sie in nächster Zeit den Kontakt zu den beiden Herren Regierungsräte etwas meiden würden. Das legt sich dann schon. Sie haben ja einen ganz fähigen Praktikanten, hat mir der Chefredaktor versichert. Unterstützen Sie ihn ein bisschen bei der Vorbereitung, dann packt der das schon.»

 

Roger nickt nur. Dann erklärt er seinem Praktikanten, wann die nächsten Medienkonferenzen der Regierung stattfinden und worum es dabei in etwa geht. Er zeichnet auf einem Flipchart noch einmal die Grundzüge der politischen Ordnung im Kanton auf: «Parlament (Legislative), 1. Gewalt im Staat. Regierung (Exekutive), 2. Gewalt im Staat. Gerichte (Judikative), 3. Gewalt im Staat». Dann zeichnet er noch ein kleines Kästchen daneben: «Medien, 4. Gewalt im Staat.»

 

«Das bist jetzt du», sagt Roger zu seinem Praktikanten.

 

Auch an diesem Tag reicht es für eine Mittagspause. Roger bestellt wieder seine Lieblingspizza. In seinem Kopf kreisen die Gedanken: «Ich kann zwar meine Arbeit nicht so machen, wie es die journalistische Ethik gebietet. Aber ich kann mich ja wenigstens so benehmen, wie es das Klischee gebietet.» Denkt es und bestellt einen halben Liter Weisswein.

 

(c) Ibefisch / pixelio.de
(c) Ibefisch / pixelio.de

Zurück zur Realität: Natürlich ist heute noch kein Journalist allein an einer kantonalen Medienkonferenz. Natürlich muss heute noch kein Journalist ohne die Unterstützung von Kollegen gegen eine Heerschar von PR-Profis antreten. Und natürlich haben die meisten Journalisten heute noch ausreichend Zeit, um wenigstens die wichtigsten Aussagen in ihren Artikeln verifzieren zu können. Doch die viel gelobte vierte Gewalt im Staat ist gefährdet, wenn die Vielfalt dieser Gewalt mehr und mehr schrumpft.

 

Deshalb, liebe Userinnen und Leser, liebe Zuschauerinnen und Hörer: Helfen Sie mit, dieses Zukunftsmärchen ein Märchen bleiben zu lassen. Kaufen Sie Zeitungen, registrieren Sie Ihre Kreditkarte bei den Online-Bezahlschranken der privaten Medien und liefern Sie Ihre Gebühren ab, damit die SRG ihre regionalen Kontrastprogramme weiterhin anbieten kann. Denn nur eine vielfältige vierte Gewalt ist auch eine schlagkräftige vierte Gewalt im Staat.

 

Disclaimer

Alle Personen und Handlungen im obigen Artikel sind frei erfunden. Der Autor ist Journalist einer SRF-Regionalredaktion und die Aussagen entsprechen seiner persönlichen Meinung.

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